Als wäre es im Kanzleramt geschrieben worden …

Rubrik: ARTIKEL 20 Absatz 4 - Widerstandsrecht von admin am 10. Jul. 2007

Deutsches Verfassungsgerichtsurteil zum Tornado-Beschluss des Bundestages belegt erneut, dass es in Deutschland in wesentlichen Fragen keine Gewaltenteilung und -kontrolle mehr gibt

Von Karl Müller, Zeit-Fragen.ch

a20a4-shirt.jpgDie deutsche Verfassung, das Grundgesetz, ist zu einem Potemkinschen Dorf geworden. Man liest das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Tornado-Beschluss des Bundestages vom März 2007 (Aktenzeichen), welches das höchste deutsche Gericht am 3. Juli verkündet hat, einmal, zweimal, dreimal … und bei jedem Mal entdeckt man neue schier unfassbare Formulierungen. So viel Regierungspropaganda in einem Urteil des höchsten deutschen Gerichts, so viel unkritische Übernahme regierungsamtlicher Lügen, weit weg von der politischen Realität, ohne jegliche materielle Prüfung der wirklichen Sachverhalte und der Weltentwicklung der letzten 25 Jahre, ist zutiefst alarmierend. Das kann kein Recht sein.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich der Lüge angeschlossen, dass die Nato auch heute noch ein Verteidigungsbündnis sei; hat behauptet, dass es zur «Verteidigung» gehöre, Angriffskriege («Krisenreaktionseinsätze») gegen andere Länder zu führen, nur weil Regierungen behaupten, diese Länder bedrohten die Sicherheit des euro-atlantischen Raumes; hat behauptet, von Afghanistan gehe nach wie vor eine «Bedrohung des Weltfriedens» aus; hat dabei völlig unkritisch Resolutionsformulierungen des von den Kriegsmächten unter die Knute genommenen UN-Sicherheitsrates übernommen; hat den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sowie auch alle anderen Nato-Kriegs einsätze seit 1990 als «Friedensdienst» bezeichnet; hat gesagt, der Afghanistan-Einsatz sei selbst dann ein «Friedensdienst», wenn die US-Regierung in Afghanistan mit ihrer OEF (das steht für den Lügenbegriff «Operation Enduring Freedom») einen völkerrechtswidrigen Krieg führen würde; hat sich dann wieder ganz der Argumentation der US-Regierung für ihren Angriffskrieg gegen Afghanistan angeschlossen; hat zugleich aber auch gesagt, es wolle nicht prüfen, ob diese Argumentation stimme; hat behauptet, Isaf und OEF-Einsatz seien strikt voneinander getrennt; hat aber auch behauptet, beide hingen doch auch wieder eng zusammen usw. usw.
Summa summarum hat das höchste deutsche Gericht der deutschen Regierung einen Freibrief für jegliche Kriegsführung ausgestellt, gegen jegliches Land: «Verfassungsrechtlich» reicht es für das Verfassungsgericht aus, wenn die Regierung behauptet, sie sehe den euro-atlantischen Raum durch irgendein Land bzw. «Terrorgruppen» in diesem Land «bedroht» und man müsse sich gegen diese Bedrohung «verteidigen» – dann können die Truppen marschieren.
medienecho-t-shirts-3.jpg«Heute Afghanistan, morgen die ganze Welt?» hatte der berichterstattende Richter Udo di Fabio noch kritisch klingend während der mündlichen Verhandlung im April gefragt. Nach dem Urteil muss man das Fragezeichen durch ein Ausrufezeichen ersetzen.
Das Urteil liegt auf der Linie der deutschen Verfassungsgerichtsentscheide der letzten 15 Jahre. Der vom deutschen Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) Anfang der neunziger Jahre formulierten Salamitaktik hin zu weltweiten Kriegseinsätzen der Bundeswehr am Volk vorbei ist das Gericht in all seinen Entscheidungen seit Mitte der neunziger Jahre gehorsam gefolgt. Nur dass jetzt auch die letzten Verfassungsgerichtsdämme gesprengt wurden.
Das entspricht der Strategie der Weltkriegspartei. Hier haben sich die deutsche Regierung und der tonangebende Teil der deutschen politischen Klasse eingefügt. Das höchste deutsche Gericht macht da keine Ausnahme. Es hat macht- und kriegspolitisch entschieden, nicht nach dem Wortlaut und Sinn der Verfassung. Und man darf mit gutem Recht Zweifel daran äussern, dass hier noch ein «unabhängiges» Gericht tätig ist, was auch immer im einzelnen die acht Richter des Zweiten Senats dazu getrieben haben mag, so zu urteilen, wie sie es taten.
medienecho-t-shirts-8.jpgDieser erneute Schlag gegen das Rechtsbewusstsein einer grossen Mehrheit des deutschen Volkes, in dessen Namen zu sprechen ja das höchste deutsche Gericht vorgibt, geht weit über eine einzelne Entscheidung zu einem Bundestagsbeschluss und Bundeswehreinsatz hinaus.
Ganz ernsthaft aufgeworfen ist die Verfassungsfrage.
«Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.» So formuliert es der im Zuge der Notstandsgesetzgebung ins Grundgesetz aufgenommene Artikel 20, Absatz 4. Die vorhergehenden Absätze bestimmen die deutsche Staatsordnung als die eines demokratischen und sozialen Bundes- und Rechtsstaates mit Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle, in dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht.
Wo stehen wir heute? Was bedeutet es, wenn die Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle in zentralen Fragen faktisch ausser Kraft gesetzt ist? Welche Möglichkeiten hat der Souverän, hat das Volk, die Staatsgewalt wieder an sich zu ziehen, wenn die Staatsorgane nicht mehr ihre Aufgaben wahrnehmen? Welche politischen Wege stehen offen, um die deutsche Weltkriegspartei zu stoppen?
Das Grundgesetz war das Resultat einer intensiven Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur und den schier unfassbaren Grauen des Zweiten Weltkrieges. Nie wieder Diktatur! Nie wieder Krieg! waren die Leitlinien einer freiheitlichen und demokratischen Grundordnung. Diese Leitlinien haben die deutschen Staatsorgane verlassen. Was also tun?

Quelle: Zeit-Fragen.ch

Ein Kommentar zu 'Als wäre es im Kanzleramt geschrieben worden …'

Kommentare als RSS oder TrackBack von 'Als wäre es im Kanzleramt geschrieben worden …'.

  1. GG sagt,

    am 11. Jul. 2007

    Da das GG für die BRD nicht mehr existent ist kann auch kaum dagegen verstoßen. Das BVG ist somit eine lehr Hülse ohne Bedeutung.
    Richtig ist hingegen, daß das deutsche Volk etwas tun muß.
    Geben wir uns einfach in freier Selbstentscheidung eine Verfassung, ganz ohne Gewalt. Sollte das von den Herrschenden gewaltsam verhindert werden, dann können wir immer noch nach Artikel 20 GG handeln.

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