Norbert Blüm: «Was hast du dem Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan?»

Gerechtigkeit versus Neoliberalismus und Globalisierung

Nobert Blüms neues Buch

von Karl Müller, Deutschland

«Wir haben es mit einer Wirtschaft zu tun, die sich anschickt, totalitär zu werden, weil sie alles unter den Befehl einer ökonomischen Ratio zu zwingen sucht. Das jedoch ist eine verkrüppelte Ratio. […] Eine Wirtschaftsordnung, die Entlassungen regelmässig mit Gewinnsteigerung beantwortet, wird nicht überleben. Die Menschen werden es sich nicht gefallen lassen.»
Norbert Blüm

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel wird von den Reichen und Mächtigen der Welt hofiert. In Davos, beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum WEF, durfte sie am 24. Januar, nun schon zum zweitenmal hintereinander, die Eröffnungsrede halten. Diese Rede zeigt denn auch, warum Angela Merkel hofiert wird. In gestellter Biederkeit trägt sie vor, dass die Globalisierung eine gute Sache sei, eine Chance und kein Risiko. Das Zusammenwachsen der Welt brauche aber auch richtige politische Rahmenbedingungen. Zum Beispiel «mehr Freiheit». Für Merkel bedeutet dies eine Ausweitung des europäischen Binnenmarktes mit seinen vier Grundsätzen der Globalisierung: ungehemmter Handel mit Gütern und Dienstleistungen, ungehemmtes Hin- und Herschieben von Menschen und vor allem ungehemmter Kapitalverkehr. Und ganz speziell: die «Vertiefung der wirtschaftlichen Verflechtung zwischen der EU und den USA» («Neue Zürcher Zeitung» vom 25. Januar). Merkel «schwebt eine Binnenmarkt-ähnliche Struktur vor». (ebenda)
Merkel steht für die Ideologie des Homo oeconomicus.

Nackte Tatsachen

Zahlen erklären nicht die Welt, aber sie sparen viele Worte. Die Hitliste der Milliardäre, die das amerikanische Wirtschaftsmagazin Forbes jedes Jahr erstellt, hat auch 2006 einen kräftigen Zuwanderungsschub erhalten. 102 Namen sind im Club der Milliardäre hinzugekommen. 793 Milliardäre auf der Welt stehen 3 Milliarden Menschen gegenüber, die mit weniger als 2 Dollar am Tag auskommen müssen, davon 1,3 Milliarden mit weniger als 1 Dollar pro Tag.
Ja, Milliarden als Besitz sind etwas anderes als Milliarden, die hungern. Milliarde ist nicht gleich Milliarde. Die 38 reichsten Länder der Welt mit 1,2 Milliarden Einwohnern haben zusammengezählt ein Bruttoinlandsprodukt von 26,7 Billionen Dollar. Die ärmeren Länder kommen mit 4,8 Billionen Dollar Bruttoinlandsprodukt aus, das sich 5,476 Milliarden Menschen teilen.
Pro Tag ergibt das für die einen ein Durchschnittseinkommen von 60,96 Dollar und für die anderen von 2,40 Dollar. Auch hierzulande klafft ein Abstand zwischen Reich und Arm. Die Zahl der Millionäre hat noch nie so schnell zugenommen wie in den letzten Jahren. 1970 gab es 217 000 Einkommensmillionäre, heute gibt es über 1,5 Millionen.
Die 358 reichsten Familien besitzen die Hälfte des Weltvermögens. Die 500 gröss ten Privatgesellschaften der Welt kontrollieren 52 Prozent des Weltsozialproduktes. Diese 500 Konzerne sind reicher als die
133 ärmsten Länder der Erde. Zwischen 1980 und 1995 erhöhte sich das Gesamtvermögen der 100 grössten transnationalen Konzerne um 700 Prozent. Die Zahlen sind zu Gunsten der Reichen und zum Nachteil der Armen eher geschönt. In die Durchschnittseinkommen der armen Länder gehen die Einkommen der dort lebenden Superreichen ein und erhöhen die Durchschnittssumme. Durchschnittsangaben sagen nichts über die Bandbreite der Angaben, deren arithmetischer Mittelwert sie sind. Wenn Armut und Reichtum gleichmässig steigen, bleibt der Durchschnitt unverändert. Durchschnittssummen sagen also noch nichts über das Ausmass des Unterschiedes zwischen Reich und Arm aus. Wenn einer zwei Bratwürste isst, der andere aber keine, haben beide durchschnittlich eine Bratwurst gegessen. Nur mit dem Unterschied, dass der eine satt und der andere hungrig ist. Der Abstand zwischen Reich und Arm wächst. Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer. Das Vermögen der Dollarmilliardäre ist von 2003 bis 2005 um 57 Prozent gestiegen. Die Differenz der Einkommen zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern wird immer grösser. 1820 verhielt sich der Abstand wie 3 : 1, 1950 wie 35 : 1, 1992 wie 72 : 1. In 98 Ländern sind die Einkommen niedriger als vor 10 Jahren. In Afrika liegen sie 20 Prozent unter dem Niveau von vor 25 Jahren.
1 Milliarde Menschen hat keinen Zugang zu sauberem Wasser. 600 Millionen sind nicht dort, wo sie leben wollen, sondern vertrieben oder geflüchtet. 30 000 Menschen sterben täglich, weil sie nichts zu essen oder nichts zu trinken haben. Kinder verrecken. 8000 Kinder sterben Tag für Tag an Krankheiten, vor denen Impfungen sie geschützt hätten.
Für viele gibt es keinen Arzt, keine Schule, für ihre Eltern keine Arbeit. Es fehlt alles, was lebensnotwendig ist.
250 Millionen Kinder sind zur Arbeit gezwungen. In den gleichen Regionen sind 900 Millionen Erwachsene arbeitslos. Die Kinder schuften, die Eltern lungern arbeitslos zu Hause herum. Die einen verhungern, die anderen verfetten. Globale Schizophrenie? Die Welt ist verrückt geworden. Allein die Mittel, welche in Amerika (8 Milliarden Dollar) und in Europa (11 Milliarden Euro) für Eiscreme und Kosmetik ausgegeben werden, würden die Kosten abdecken, um 2 Milliarden Menschen eine Grundschulausbildung und sauberes Wasser zu beschaffen. Ein Quäntchen mehr Gerechtigkeit – mehr nicht –, und das Elend verschwände aus der Welt. Der Mensch: «Krone der Schöpfung», «Gotteskind» – homo sapiens – animal rationale. Wie schön sind die Worte, mit denen wir den Menschen schmücken, und wie schmutzig das Elend, in dem der grössere Teil der Menschheit watet. Wir sind fähig, Menschen zum Mond zu transportieren, und gleichzeitig unfähig, Gerechtigkeit auf der Erde landen zu lassen.
Was nutzt die Sonde auf dem Mars, wenn die Brunnen in der Sahara austrocknen? Der Mensch, das vernunftbegabte Wesen, vergeudet seine Intelligenz an Nebensächlichkeiten. Am Streit über die Genauigkeit der Armutszahlen beteilige ich mich nicht. Denn selbst wenn die Zahl der Armen übertrieben wäre, was unwahrscheinlich ist, schreit das Elend zum Himmel. Beginnt der Skandal, wenn ein Kind verhungert ist, oder erst, wenn eine Million Kinder verhungert sind?
Zahlen, Statistiken, Diagramme sind totes Material. Das Verlangen nach Gerechtigkeit kann dadurch argumentativ gestützt werden, aber entzündet wird es dadurch nicht. Entflammt wird der Aufstand gegen Ungerechtigkeit durch das angeborene Bewusstsein der Menschen, dass sie Anspruch darauf haben, als Menschen anerkannt zu werden. Das ist ein Recht und kein Almosen.
aus: Norbert Blüm, Gerechtigkeit. Eine Kritik des Homo oeconomicus, S. 15ff.

Ganz anders hingegen das neue Buch des 16 Jahre lang amtierenden ehemaligen deutschen Ministers für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm, das den Titel trägt: «Gerechtigkeit. Eine Kritik des Homo oeconomicus».
Blüm gehört derselben Partei an wie Angela Merkel, aber zwischen den Anschauungen dieser beiden Personen liegen offenbar Welten – und das nicht erst seit gestern.

Eine aufrechte Haltung

Der Verfasser dieses Artikels erinnert sich an den Spätherbst 1973. Damals war er Bundesdelegierter des Ringes Christlich Demokratischer Studenten RCDS. Die Versammlung fand wenige Wochen nach dem blutigen Putsch Pinochets gegen die gewählte chilenische Regierung statt. Innerhalb der damaligen CDU und auch innerhalb des der CDU nahestehenden RCDS waren kritische Stimmen zu diesem von der CIA organisierten Staatsstreich nicht gern gesehen. Sehr kontrovers wurde deshalb eine Stellungnahme von Norbert Blüm diskutiert. Dieser hatte sich nicht an die informelle Parteilinie gehalten. Das Recht war ihm wichtiger. Er legte sich quer und prangerte den Putsch an. Dem Verfasser ist diese aufrechte Stellungnahme über all die Jahre in Erinnerung geblieben.
In seinem neuen Buch schildert Blüm eine Begebenheit, eine Begegnung mit Pinochet selbst, in der er, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, die brutalen Foltermethoden des Regimes anprangerte und Gerechtigkeit forderte.
Auch in einer anderen Frage hat Norbert Blüm Flagge gezeigt. Seit 2002 engagiert er sich verstärkt für die Palästinenser in den besetzten Gebieten und unternahm zusammen mit Rupert Neudeck mehrere Reisen nach Palästina. Blüm ist ein entschiedener Kritiker der israelischen Besetzungspolitik und lässt sich dabei nicht durch Polemiken in irgendwelche Ecken stellen. Gerechtigkeit ist für ihn offensichtlich nicht nur eine Frage der intellektuellen Diskussion, sondern auch eine Frage der konkreten Tat, grundlegende Ideen über das Zusammenleben der Menschen in die Wirklichkeit umzusetzen.
Blüms Buch hat 6 Kapitel und eine Einleitung, die er «Zur Einstimmung» überschreibt.
Die Kapitel tragen die Überschrift «Was bewegt die Welt?», «Gerechtigkeit», «Menschenbilder», «Der Neoliberalismus», «Die Verwirtschaftung des Lebens» und «Ein Blick rundum».

Der Mikro- und der Makrokosmos der Globalisierung

Die «Einstimmung» wirft einen Blick auf den Mikro- und den Makrokosmos der Globalisierung. Im Drei-Länder-Eck Brasilien-Argentenien-Paraguay wird ein riesiger Staudamm gebaut, Blüm nennt das Projekt eine «Symbiose aus Gigantomanie und Fun». Wir kennen gleiche Bilder aus der ganzen Welt – oft gerade aus denjenigen Ländern, die am meisten ausgebeutet werden. Überdimensional aufgemachte Werbeplakate, Filme und Fernsehsendungen gaukeln eine schöne neue Welt vor, eine widernatürliche Show von Glanz und Reichtum. Blüm schildert die Realität: «Doch leider ist hinter dem heiteren Gesicht des Fortschritts die Fratze des Elends versteckt: Ausbeutung, Unterdrückung, Menschenverachtung.» In Sichtweite des gigantischen Wasserkraftwerkes gehen Tausende von Kindern auf den Strich, werden Kinder ermordet. Die Reichen des Landes leben abgeschirmt in festungsähnlich ausgebauten Villen, «wollen auch gar nicht erst sehen, wie es in der Welt da draussen zugeht», schicken «ihr Töchterchen auf die Wirtschaftshochschule St. Gallen».
Es gibt internationale Konventionen gegen das Elend. Aber solange sie nur auf dem Papier stehen und es zu wenige gibt, die sich für deren Einhaltung einsetzen, nutzen diese Konventionen nichts.
Blüm nennt auch die Zahlen des Makrokosmos. Zum Beispiel: «793 Milliardäre auf der Welt stehen 3 Milliarden Menschen gegenüber, die mit weniger als 2 Dollar am Tag auskommen müssen, davon 1,3 Milliarden mit weniger als 1 Dollar pro Tag.» Oder: «In 98 Ländern sind die Einkommen niedriger als vor 10 Jahren.» Oder: «1 Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Wasser.» Oder: «30 000 Menschen sterben täglich, weil sie nichts zu essen oder nichts zu trinken haben.» Oder: «Allein die Mittel, welche in Amerika (8 Milliarden Dollar) und in Europa (11 Milliarden Euro) für Eiscreme und Kosmetik ausgegeben werden, würden die Kosten abdecken, um 2 Milliarden Menschen eine Grundschulausbildung und sauberes Wasser zu beschaffen.» Oder, später im Buch: «Wenn sich der Tageskurs der Aktien auf den globalen Börsen nur um 1 Prozent ändert, sind rund 400 Milliarden Dollar im Handumdrehen geräuschlos umverteilt. Das ist dreimal so viel, als an diesem Tag alle Arbeiter der Welt als Lohn verdienen.» Oder: «Die Globalisierung ist das exklusive Spiel einer privilegierten Minderheit, die sich für die Menschheit hält.»

Das Streben nach Gerechtigkeit

«Die Menschen geben sich nicht mit der Welt zufrieden, in der sie leben.» Dieser Satz steht am Anfang des 1. Kapitels. Und am Ende des ersten Unterkapitels steht: «Ein gelungenes, gerechtes Leben in einer gerechten, guten Gesellschaft ist das Glück, nach dem wir streben.»
Auf die Frage: «Wie wollen wir zusammenleben?» referiert Blüm die geistigen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte. «Der Ruf nach Gerechtigkeit durchzieht die Geschichte der Menschheit», und: «Gerechtigkeit ist das Signum der Humanität», und: «Der Ruf nach Gerechtigkeit wird um so lauter, je dunkler die Welt erscheint», und: «Die Herrschenden müssen sich am Massstab der Gerechtigkeit messen lassen», und: «Nicht das Recht des Stärkeren ist die Gerechtigkeit [...], Gerechtigkeit [...] ist die Waffe der Schwachen. Die Starken bedürfen ihrer nicht. Zusammenleben in Frieden können die Starken und die Schwachen nur unter dem Dach der Gerechtigkeit», und: «Jeder hat Anspruch auf Gerechtigkeit, und niemand ist ausgestossen», und: «Die Elementarkunde Gerechtigkeit ist ganz einfach: Anerkennung der Würde jedes Menschen».

Gerechtigkeit: Tugend und Sozialprinzip

Gerechtigkeit ist eine persönliche Tugend und ein soziales Prinzip für die Gestaltung der das Zusammeleben der Menschen ordnenden Institutionen. «Ohne Tugend bleibt Gerechtigkeit leer, und ohne gerechte Institutionen verbleibt die Gerechtigkeit gestaltlos.»
Mit einer «Philosophie der Nützlichkeit» hat Gerechtigkeit nichts zu tun: «Die grosse Gerechtigkeitsphilosophie von Aristoteles bis Kant lässt sich auf eine solche Verrechnung der Moral nicht ein. Jeder Mensch ist Zweck und kein Mittel.» Deshalb kann Gerechtigkeit «nie die Verletzung von Menschenrechten gutheissen».
Wie hochaktuell sind solche Sätze angesichts der gegenwärtigen Weltmacht- und Weltkriegspolitik, angesichts dessen, dass Völkerrecht und Menschenrechte mit Füssen getreten werden!
Die Gerechtigkeitslehre, die Blüm, die christliche Soziallehre aufgreifend, entfaltet, hat noch weitere praktische Konsequenzen: vor allem für die Gestaltung der Wirtschaftsordnung in einem Lande und in der Welt. Die krasse soziale Ungleichheit der Menschen, der gierige Egoismus des Profitstrebens und die Radikalisierung der Marktidee sind zutiefst ungerecht – und sie widersprechen dem Wissen über die Natur des Menschen.
In «Gaudium et spes», der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, heisst es: «Die gesellschaftliche Ordnung und ihre Entwicklung müssen sich dauernd am Wohl der Personen orientieren, denn die Ordnung der Dinge muss der Ordnung der Person dienstbar werden und nicht umgekehrt.»

Privatisierung

Der real existierende Sozialismus war die real gewordene Monopolisierung der Macht. Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative war abgeschafft. Alle Macht lief in den Händen der Partei zusammen. «Die Partei hat immer recht».
Wirtschaftliche und politische Macht wurden im real existierenden Sozialismus vereint und damit potenziert. An die Stelle der Utopie von der herrschaftsfreien, klassenlosen Gesellschaft trat die Realität vom Machtmonopol und eine verfilzte Bonzokratie. Privater und öffentlicher Sektor wurden fusioniert. Die Öffentliche Hand ergriff alles und erreichte den Menschen bis in die entferntesten Winkel seines Lebens und am letzten Zipfel seines Gewandes. Selbst das Denken wurde staatlich reglementiert und notfalls mittels Gehirnwäsche von allen privaten Regungen gesäubert. Das jedenfalls war das ideologische Soll, das freilich nie total erreicht wurde, so sehr sich auch der Totalitarismus anstrengte.
Alles Private sollte eliminiert, der Mensch «veröffentlicht» werden. Das war das Ziel.
Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus setzte die neoliberale Gegenrevolution ein. Jetzt sollen alle Gewässer in die entgegengesetzte Richtung fliessen und über private Mühlen geleitet werden. «Hurra, wir versteigern den Staat!», ist der Freudenschrei der Neoliberalen. Alles Öffentliche soll offenbar pulverisiert werden. Das ist die neoliberale Variante des Totalitarismus. Staat und Gesellschaft werden privatisiert. Damit wird im Neoliberalismus wie im Sozialismus die spannungsreiche, freiheitssichernde Dualität zwischen öffentlicher und privater Sphäre geschwächt. Im einen Fall zu Gunsten der privaten, im anderen zu Gunsten der öffentlichen Sphäre. [...]
Pivatisierte «Sicherheit»
Die Privatisierung breitet sich aus wie ein Lavastrom, drängt den Staat selbst aus jenen Bereichen zurück, die ihm von jeher unbestritten zustehen. Das Gewaltmonopol des Staates beendete einst die Anarchie und garantierte die Sicherheit der Bürger. Dieses Gewaltmonopol wird wieder zurückgedrängt.
Sicherheit vor Verbrechen liefern private Anbieter. Private Wachdienste übernehmen Polizeiaufgaben und bisweilen sogar die Funktion von Militär. Die Finanzierung der privatisierten Staatsfunktion läuft mancherorts über Drogen und Waffenhandel. Die Kriminalität ernährt ihre Kinder.
Die aufgerüsteten privaten Armeen sind die neuen Streitmächte in der schon privatisierten Welt. Der russische Erdölkonzern Gasprom beschäftigt zum Selbstschutz ein Heer von 20000 Personen, besser bezahlt und ausgerüstet als die russische Armee, der die Soldaten abgeworben wurden. BP, British Petroleum, richtete einen privaten Sicherheitsdienst zum Schutz seiner Erdölförderung in Kolumbien ein, der vor Ort mehr Macht hat als Polizei und Armee zusammen. Die Kontrollen an nationalen Grenzen sind in schwachen Staaten lascher als die Kontrollen beim Betreten starker Unternehmen in heruntergekommenen Staaten. Söldnertruppen vagabundieren um die Welt und bieten ihre privaten Dienste jedem an, der sie bezahlen kann. Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. Die Privatisierung der Volkssicherheit ist ein lukratives Geschäft, ein Wachstum von 50 Prozent in fünf Jahren bietet beste Profitperspektiven. [...]
Die Staatsdemontage in den armen Ländern lässt die Korruption wuchern. Die Reste des Staates versinken in Kriminalität und Schuldenschlamm. Wie die Piranhas lassen die Privatisierer nur das abgenagte Gerippe des Staates übrig.
Auch in den reichen Ländern lohnt sich Privatisierung, jedenfalls für das «obere Personal». Der Wechsel vom öffentlichen Amtsträger zum Geschäftsführer schafft nicht nur Einkommensvorteile. Die rechtlichen Risiken eines Geschäftsführers sind geringer als die der Amtsträger. Der erste ist den Eigentümern verantwortlich, der zweite der Allgemeinheit. [...]
Die Privaten dirigieren den Staat. Das ist die Umkehrung der sozialistischen in die kapitalistische Planwirtschaft. Private Rating-Agenturen entscheiden nicht nur über die Zukunft von Unternehmen, sondern auch über die Kreditwürdigkeit von Staaten, die Hilfe von der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds erbitten. [...]
Privatisiertes Wasser
In Südafrika führte die privatisierte verteuerte Wasserversorgung in einigen Landesteilen dazu, dass statt des sauberen, aber zu teuren Wassers wieder schmutziges Wasser aus Seen und Flüssen getrunken wurde. Eine Rückkehr der Cholera war die Folge, an der Hunderttausende von Menschen erkrankten.
Die Kosten der Bekämpfung der Epidemie waren höher als das Geld, das die Gemeinden durch Privatisierung gespart haben. Das ist die Milchmädchenrechnung der Privatisierung. Der Kampf ums Wasser wird der nächste globale Konflikt sein. Es bestehen alle schlechten Aussichten, dass er an Härte und Gewalt den Kampf ums Öl übertreffen wird. Der Durst nach Wasser quält die Menschen noch mehr als der Bedarf der Autofahrer an Benzin. Die BP, Shell etc. des Wassers bereiten sich schon still auf den nächsten lautlosen Weltkrieg vor. Er wird vorerst waffenlos geführt. Wie er weitergeht, weiss man noch nicht. Die Privatisierung der Natur kennt immer weniger Grenzen.
aus: Norbert Blüm, Gerechtigkeit. Eine Kritik des Homo oeconomicus, S. 126ff.

Was ist der Mensch? Person!

Was aber ist die «Ordnung der Person», was ist der Mensch?
Weder ein losgelöster einzelner noch ein im Kollektiv aufgehendes Rädchen. In «Gaudium et spes» heisst es: «Der Mensch ist aus innerster Natur ein soziales Wesen, und ohne Beziehung zu den anderen kann er weder leben noch seine Gaben zur Entfaltung bringen.»
Der Mensch ist sowohl Individuum als auch Sozialwesen. Der Mensch ist Person: «Der Personalismus setzt an die Stelle eines anonymen ‹Weltgeistes› oder einer gesichtslosen Materie eine ‹Person›, die sich in Beziehung entfaltet». Dieser «Jemand» «ist einmalig und doch nicht allein». «Person bedeutet, dass ich von keinem anderen gebraucht werden kann, sondern Selbstzweck bin», sagt der Religionsphilosoph Romanoa Guardini. Der Mensch ist unverfügbar. Norbert Blüm erinnert an die biblische Frage: «Was hast du dem Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan?» – und damit an die Stellung des Menschen in der Welt: «Rechenschaft wird nicht darüber verlangt, was der Mensch für sich, sondern über das, was er für andere gemacht hat.»

Die «alten» Neoliberalen der sozialen Marktwirtschaft

An diesen Gedanken muss sich die Politik, muss sich die Wirtschaftsordnung messen lassen. Die Väter der sozialen Marktwirtschaft haben das gewusst. Blüm spricht vom «alten» Neoliberalismus und meint Wissenschafter und Politiker wie Walter Eucken, Franz Böhm, Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke und Alfred Müller-Armack, aber in gewisser Hinsicht auch den ehemaligen deutschen Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard. Diese Persönlichkeiten hatten sich gegen eine Wirtschaftsordnung der Konzernmacht und für wirklich freien Wettbewerb im Rahmen einer gemeinwohlorientierten, sozial gerechten Wirtschaftsordnung eingesetzt, für einen, so Blüm, «dritten Weg» zwischen Kommunismus und Kapitalismus.
Ganz anders der «neue» Neoliberalismus: «Der alte Liberalismus war eine gesellschaftliche Idee. Der neue Liberalismus ist zu einer Geschäftsidee verkommen.» Profit ist der «Gott der Neoliberalen». «Gemeinsamkeiten lösen sich auf, Gesellschaft wird atomisiert. Alles Dauerhafte ist veraltet. Moral ist eine befristete Verabredung. Strukturen sind vorübergehende Kondensierungen, die verdampfen wie der Regentropfen unter dem Sonnenstrahl. [...] Liberalisierung versteht sich als Entfesselung, Globalisierung als Entgrenzung. [...] Der Neoliberalismus ist im Kern nichts anderes als eine Ideologie der Grenzenlosigkeit.»
Der «neue» Neoliberalismus: eine Kulturrevolution plus Geld, Geld und noch mehr Geld

Die drei Glaubenssätze des Neoliberalismus lauten: «Deregulierung, Wettbewerb und Kostensenkung». Hinzu kommen unter anderem: die Zerstörung eines gemeinwohlorientierten Staates und seiner öffentlichen Aufgaben; statt dessen die Profitorientierung aller Daseinsbereiche bis hin zu privaten Patenten für Gene und Zellen zur «Kontrolle und Nutzung von Lebensprozessen» – der Ruf heisst «Privatisierung». Und der von allen Bindungen entwurzelte Mensch, der «flexible Mensch», der «Job-Nomade».
Es ist eine «Kulturrevolution»: «Wie Mao und seine Jünger räumen die neuen Neoliberalen alles ab: Traditionen, Konventionen, Werte. [...] Die neuen Neoliberalen sind die in den Untergrund abgetauchten Maoisten, die an deutschen Lehrstühlen wiederaufgetaucht sind. Wie ihr geheimer Lehrmeister Mao Zedong 1974, so bekämpfen sie drei Jahrzehnte später vier alte Übel: alte Kultur, altes Denken, alte Sitten, altes Brauchtum.»
Ihr Persönlichkeitsideal ist der «hedonistische Autist». Diejenigen, die auf der Strecke bleiben, sollen allenfalls Almosen bekommen. Aber Almosen und Fürsorgeleistungen ersetzen keine Gerechtigkeit: «So viel Verbandszeug kann die Fürsorge gar nicht liefern, wie die Ungerechtigkeit Wunden schlägt.»
Da ist es äusserst alarmierend, wenn Blüm darauf hinweist, wie sich die «moderne» CDU Angela Merkels und selbst die «modernen» deutschen katholischen Bischöfe diesem Zeitgeist verschrieben haben.

Sozialpolitik

Sozialpolitik ist nicht der Lazarettwagen, der hinter der wirtschaftlichen Entwicklung herfährt und die Fusskranken aufsammelt. Eine Sozialpolitik, die über den Tag hinausdenkt, muss überlegen, wie sie eine Ordnung schafft, in der möglichst niemand unter die Räuber fällt. Sie handelt vorausschauend und deckt den Brunnen ab, bevor das Kind hineingefallen ist. Das geht nicht ohne Gerechtigkeit.
aus: Norbert Blüm: Gerechtigkeit. Eine Kritik des Homo oeconomicus, S. 168

Heisst «Freiheit» Freiheit für die Milliardäre?

«Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit» ist der Titel des neuen Grundsatzprogrammentwurfs für die CDU. Blüm dazu: «Welche neue Gerechtigkeit soll denn durch mehr Freiheit entstehen? Mehr Freiheit für das Finanzkapital, das die Globalisierung beherrscht, ergibt zwar eine ‹neue›, andere Gerechtigkeit, aber keine, die sich mit dem christlichen Verständnis von Gerechtigkeit harmonisieren lässt. ‹Mehr Freiheit für Bill Gates›, damit er seinen 55 Milliarden Dollar Privatbesitz noch ein paar Dollars hinzufügt und das Drittel seiner Arbeitnehmer, die bei ihm als Aushilfen beschäftigt sind, vielleicht auf die Hälfte erhöht? Ist die Vermehrung dieser Bill-Gates-Freiheit die neue Gerechtigkeit, die hier gemeint ist?»
Die deutschen Bischöfe haben 2004 gefordert: «Das Soziale neu denken.» Das alte Soziale, so die Bischöfe, sei zu einem Anspruch geworden, «um eine immer komfortablere Normalität herzustellen». Blüm fragt: «Der Arbeitslose, der 200 Bewerbungen erfolglos geschrieben hat, empfindet seine Lage nicht als ‹komfortable Normalität›. Im Sozialstaat Deutschland ist in den letzten 20 Jahren mehr gekürzt als ausgebaut worden. Wo leben die Verfasser solcher Texte?» Blüm weist darauf hin, wen die Bischöfe mit der Federführung ihres Papiers betraut haben: Hans Tietmeyer, den ehemaligen Präsidenten der Deutschen Bundesbank. Und Blüm nennt die sozialen Tatsachen in Deutschland: «11 Millionen Menschen in unserem Land sind arm oder von Armut bedroht. 7 Millionen Menschen leben auf Sozialhilfeniveau. 5 Millionen Menschen haben keine Arbeit, und 3 Millionen Menschen sind überschuldet. [...] 10 Prozent der Bevölkerung besitzen in Deutschland knapp 47 Prozent des Vermögens, und 50 Prozent kommen mit rund 3,8 Prozent des Vermögens in Deutschland aus.[...] Um 65 Milliarden Euro wird der Staat nach Schätzungen der Caritas durch Steuerhinterziehung jährlich betrogen. Durch Sozialhilfemissbrauch nur um 120 Millionen Euro.»

Der Homo oeconomicus ist eine Karikatur des wirklichen Menschen

Blüm wendet sich gegen das Propagandawort von der «Eigenverantwortung»: «Nur über die Mitverantwortung erreichen wir die Selbstverantwortung. Der Mensch ist nicht autark und nicht autonom. Sein Selbst ist nicht ein isoliertes Einzelnes. [...] Eigenverantwortung für private Anstrengung zu reservieren ist eine ideologische Beschlagnahme, welche die personale Verantwortung beschädigt.»
Der Homo oeconomicus, der verwirtschaftete Mensch, ist die Leitfigur der neoliberalen Welt. Das Motto dieses Menschen sei: «Geld ist, was zählt. Geld regiert die Welt.[...] Keine Geste der Grosszügigkeit, kein Zeichen der Zuneigung ist ihm etwas wert, wenn es sich nicht positiv aufs Geschäft auswirkt. [...] Die Menschen werden mit einem Preis versehen. Wer und was nichts kostet, ist nichts wert.»
Das Weltbild des Homo oeconomicus ist materialistisch. Er ist «die letzte Stufe der Degeneration des homo sapiens». Eine armselige «neurotische» Gestalt mit einem «kleinen Horizont» und einem «amputierten Menschenbild», eine «Karikatur des wirklichen Menschen», die nicht weiss, dass es zu den glücklichsten Erfahrungen des Menschen gehört, «zu lieben, ohne Lohn; zu vertrauen, ohne Rückversicherung; zu wagen, wo einem scheinbar nur ein sinnloses Abenteuer zugemutet wird, das sich nie rentieren kann». (Karl Rahner)

Ideen, welche die Köpfe und Herzen der Menschen bewegen

Norbert Blüm sagt, man würde über sein neues Buch schweigen. Das erstaunt nicht und zeigt nur, wo wir heute stehen. Zugleich aber ist er zuversichtlich, dass eine aufgezwungene falsche Ideologie und deshalb falsche Wirklichkeit nicht bestehen kann. «Kapitalismus und Sozialismus haben uns bewiesen, dass der Materialismus die Welt nicht auch nur einen Schritt vorwärts bringt. Man kann aus Erfahrung klüger werden.»
Er setzt auf die Kraft der Ideen – aber es braucht vor allem Menschen, die sich für gute Ideen einsetzen: «Menschen, die einer Idee folgen, bewegen die Welt. Die christlich-soziale Idee ist eine grosse Hoffnung für die Zukunft, aber ohne Menschen, die für sie eintreten, landet sie, wenn sie Glück hat, im Museum für vergessene Ladenhüter.»
Ganz konkret entwirft Blüm am Ende seines Buches Konzepte für eine Arbeitswelt mit einer Beschäftigung für alle, die arbeiten wollen: nicht mehr in der Hauptsache im produzierenden Gewerbe, sondern auf eine Art und Weise, «in welcher sich die Menschen begegnen», Arbeit, «die dem Menschen dient», Arbeit, die sich durch Mitbestimmung und Miteigentum auszeichnet. Und ein Sozialsystem der solidarischen Selbsthilfe.
Er kann nur Anregungen geben. «Zu meinen Erfahrungen gehört: Die besten Ziele sind Ziele, von denen Menschen überzeugt sind, dass sie gerecht sind. Ideen, welche die Köpfe und Herzen der Menschen ergreifen, sind eine Macht.» Sein letzter Satz im Buch lautet: «Ich vertraue auf die Weltmacht der Gerechtigkeit. Sie wird stärker.» •

Wie wollen wir zusammenleben?

Das ist die Grundfrage, auf die die Gerechtigkeit antwortet. So viel jedenfalls ist sicher: Der Ruf nach Gerechtigkeit durchzieht die Geschichte der Menschheit, solange es sie gibt, auch wenn die Vorstellungen über Gerechtigkeit diffus und die Namen, die dafür gefunden werden, unterschiedlich sind. Gerechtigkeit ist das Signum der Humanität. Gerechtigkeit lässt sich nicht zum Schweigen bringen und auch nicht durch Mildherzigkeit ablenken.
Barmherzigkeit ist kein Ersatz für Gerechtigkeit. Sie ist lebenswichtig, denn die vollkommene Gerechtigkeit gibt es auf Erden so wenig wie den fehlerlosen Menschen. Immer bleibt Barmherzigkeit der liebenswerte Lückenbüsser der irdischen Gerechtigkeit und die Einsatzreserve, die unsere Unvollkommenheit kompensiert. Mitgefühl ist die Quelle der Solidarität: Ohne Gefühle wird es kalt. Aber ohne Gerechtigkeit geht der Mensch zu Grunde. [...]

Die zweifache Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist ein Zweifaches: Tugend und soziales Prinzip. Deshalb geht es der Gerechtigkeit um ein Doppeltes: Ein gelungenes Leben und eine gute Gesellschaft. Ohne Tugend bleibt Gerechtigkeit leer, und ohne gerechte Institutionen verbleibt die Gerechtigkeit gestaltlos. Gerechtigkeit formt subjektives Verhalten und ordnet objektive Verhältnisse. Gerechtigkeit erfüllt sich im Handeln. In der Gerechtigkeit sind alle Tugenden zusammengefasst. Sie weist Tugenden und Prinzipien ihren Platz zu. Für Aristoteles ist die Gerechtigkeit deshalb «kein blosser Teil der Tugend, sondern die ganze Tugend». Die Tugend der Gerechtigkeit ist der beständige und feste Wille, das Eigene des Anderen anzuerkennen. Die Einstellung ist nicht selbstverständlich. Wie jede Tugend muss sie geübt werden, damit sie zu einer Verhaltensdisposition wird, die nicht ständig neu eingestellt werden muss. Institutionen sind ein Gefüge sozialer Normen, an denen sich unsere Handlungen orientieren können. Wir können nicht ständig neu entscheiden. Tugend wie Institutionen entlasten unsere Entscheidungskapazität. «Immer alles selbst entscheiden zu wollen, ist typisch für Neurotiker». (Arnold Gehlen) Es ist mit Tugend und Institutionen ähnlich wie mit den Hosenträgern. Sie entlasten unsere Hände für wichtigeres, als Hosen zu halten. Auch unser sittliches Urteilsvermögen bedarf solcher Abwehr von Überlastung, sonst sieht es vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.
Ein richtiges Leben in einer falschen Gesellschaft ist schwer zu haben, und eine gute Gesellschaft mit schlechten Menschen ist nicht zu machen. Richtig leben heisst gerecht leben, und das bedeutet, das Wesen des Menschen zu erfüllen. Das Wesen des Menschen ergibt sich nicht aus der Beschreibung seiner physisch-psychischen Existenz. Die Frage nach dem Wesen des Menschen sucht die Antwort auf die Bestimmung des Menschen. Diese ist nicht durch die Summe seiner wechselnden Wünsche und Interessen festzulegen. Alles hat sein Ziel. Um dies plausibel zu machen, zählte Sokrates einfache Bestimmungen auf, die zu jedem Ding gehören: zum Auge das Sehen, zum Ohr das Hören, zur Rebschere das Abschneiden des Rebenschösslings. «Also gut, sage ich, du bist doch auch der Meinung, dass jedes Ding, dem eine Aufgabe gestellt ist, auch eine entsprechende Tüchtigkeit besitzt», erklärte Sokrates dem Thrasymacho». «Die Tüchtigkeit der Seele ist die Gerechtigkeit».
Es geht also darum, dass jede Sache ihre Funktion hat. Die Aufgabe des Menschen ist Gerechtigkeit, die als Anleitung zum guten Leben fungiert. Das «gute Leben» ist Leben mit anderen. Deshalb führt die Tugend der Gerechtigkeit über die einzelne Person hinaus und wird zum sozialen Ordnungsprinzip. [...]
Die Vertreter einer Philosophie der Nützlichkeit werden nie die Mauer der Eigeninteressen überspringen. Das militaristische Ziel: «Das grösstmögliche Glück der grösstmöglichen Zahl» (Jeremy Bentham) bietet keinen verlässlichen Schutz der Würde jedes Einzelnen. Die Benthamsche Formel würde sogar die Versklavung weniger rechtfertigen, wenn dadurch der Wohlstand vieler gesteigert würde. Mit einem reinen Kosten-Nutzen-Kalkül könnte die Behandlung eines Krebskranken vernachlässigt werden zugunsten der Heilung von Tausenden Grippekranken.
Die grosse Gerechtigkeitsphilosophie von Aristoteles bis Kant lässt sich auf eine solche Verrechnung der Moral nicht ein. Jeder Mensch ist Zweck und kein Mittel. Wer die Gerechtigkeit mit der Nützlichkeit gleichsetzt, könnte auf den Gedanken kommen, das US-Gefangenenlager Guantánamo sei eine Institution der Gerechtigkeit, denn das Lager diene dem «nützlichen» Kampf gegen Terrorismus. Nach christlichem Verständnis kann jedoch Gerechtigkeit nie die Verletzung von Menschenrechten gutheissen. Die Disziplin der Gerechtigkeit beginnt mit der Anerkennung des Anderen.
Wegen der Gefahr, die eigenen Interessen für wichtiger zu halten als die des Anderen, gehört zu Gerechtigkeit die Bereitschaft, sich Regeln oder einer konfliktlösenden Instanz zu unterwerfen. Davor allerdings müssen Interessen und Wünsche objektiviert werden, damit sie vergleichbar werden. Erst indem «wir unsere Interessen und Wünsche objektivieren, und das heisst, allgemeinen Massstäben unterstellen, werden sie überhaupt vergleichbar». (Robert Spaemann)
aus: Norbert Blüm, Gerechtigkeit. Eine Kritik des Homo oeconomicus, S. 20ff.

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