Vom Sozialstaat zum Kontrollsystem
Ärzte sollen Kranke melden, die ihr Leiden selbst verschuldet haben. Die Krankenkassen stünden demnach nicht uns bei, sondern wir schuldeten ihnen, gesund zu bleiben
Die Diagnose vorab. Sie lautet: Erosion des demokratischen Denkvermögens im fortgeschrittenen Stadium. Symptome: Scheinlogik auf Seiten der politischen Akteure, Indifferenz bis zum politischen Autismus bei den Bürgern. Krankheitstypische Äußerungen von infizierten Personen: “Der Rechtsstaat muss verteidigt werden, aber in Zeiten wie diesen hat Sicherheit Vorrang” (ein eifriger Minister). Oder: “Dann sollen sie halt Festplatten scannen - das betrifft ja nicht Leute wie mich, die nichts zu verbergen haben” (ein unbescholtener Bürger). Verbreitungsgrad des Syndroms: epidemisch.
Die Optimisten unter uns glauben bislang, die Ausbreitung des beschriebenen Krankheitsbilds beschränke sich auf den sogenannten Anti-Terror-Kampf. Sie beobachten den Umbau eines auf Notlagen reagierenden Wohlfahrtsstaates in ein präventiv denkendes und handelndes Kontrollsystem und reden sich ein, es handele sich nicht um eine dauerhafte Entwicklung, nicht um ein grundsätzliches Umdenken in Sachen Bürger-Staat-Verhältnis, sondern um temporäre Härtefallregeln, mit deren Hilfe wir - leider, leider! - den derzeit so virulenten Bedrohungen unserer Gesellschaft begegnen müssen. Aber was, wenn das Virus ein wenig mutiert und plötzlich die Abteilung Terrorismus verlässt? Wenn es sich ein Wirtstier sucht, das es in alle Lebensbereiche trägt? (mehr…)
„David gegen Goliath“ – das geplante Handelsabkommen zwischen der EU und den Afrika-Karibik-Pazifik-Staaten soll den reichen Ländern neue Märkte eröffnen
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit laufen die Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und den Afrika-Karibik-Pazifik-Staaten (AKP-Staaten) zu den Economic Partnership Agreements (EPAs). Die wirtschaftliche Zusammenarbeit wird mit wohlklingenden Begründungen wie etwa der “Beseitigung der Armutâ€, der „Förderung nachhaltiger Entwicklung“, der „Förderung der Menschenrechte“ und der „Förderung der Demokratie†propagiert. Ein Beitrag von Christine Wicht.
Die Verhandlungen zwischen der EU und den AKP-Staaten sollen bis spätestens Dezember 2007 abgeschlossen sein, die Umsetzung im Januar 2008 beginnen und zwischen 10 und 12 Jahren dauern. Die AKP-Staaten sollen ihre Märkte stärker für die Wirtschaft der EU öffnen und im Gegenzug mit Hilfe von „Zollpräferenzen“ Zugang zu europäischen Märkten erhalten. Afrikanische Kleinbauern und Produzenten, befürchten hingegen den Zusammenbruch lokaler Produktionszweige, ein Sinken der Ernährungssouveränität und eine zunehmende Abhängigkeit von Europa. Kritiker monieren die Öffnung von Bereichen, die weit über die WTO-Regelungen hinaus gehen, wie beispielsweise die Liberalisierung von Investitions- und Dienstleistungsmärkten. Die Bedingungen, an die das Abkommen geknüpft ist, geben Anlass zu der Befürchtung, dass sich die Situation für die betroffenen AKP-Staaten, entgegen den Lockrufen der Vertreter der Europäischen Union, nicht verbessern, sondern erheblich verschlechtern wird. (mehr…)
Die Einheitsprofiteure
 Abbau Ost: Wie westdeutsche Banken sich an der DDR bereicherten
Von Lydia Krüger
Siebzehn Jahre sind seit dem Ende der DDR und ihrem Anschluß an die Bundesrepublik inzwischen vergangen. Von einer deutschen Einheit im Sinne der Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen kann jedoch keine Rede sein: So ist die Arbeitslosenquote in den sogenannten neuen Ländern mit offiziell 14,1 Prozent immer noch doppelt so hoch wie in den alten, wo sie aktuell bei sieben Prozent liegt. Und obwohl im Osten länger gearbeitet wird, erzielen die Beschäftigten dort nur 77 Prozent des durchschnittlichen Westeinkommens. Wie sehr die hohe Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern ausgenutzt wird, um Löhne immer weiter zu drücken, sieht man daran, daß in etwa einem Drittel der ostdeutschen Betriebe Ein-Euro-Jobber in der Mehrheit sind. Kein Wunder, daß gerade junge und qualifizierte Menschen dem Osten den Rücken kehren und so statt den versprochenen »blühenden Landschaften« zum Teil sehr trostlose Gegenden hinterlassen. (mehr…)
Volle Deckung
EINIG IM GEISTE
Wahrheitsminister Schäuble und Friedensminister Jung beschwören den Ernstfall an der Heimatfront
Nach dem Vorstoß von Innenminister Schäuble im Juli, man dürfe im Anti-Terror-Kampf die vorbeugende Erschießung von Verdächtigen nicht mehr ausschließen, hat sich nun Verteidigungsminister Jung mit dem vorsorglichen Abschuss entführter Passagierflugzeuge in Szene gesetzt. An diesem Hang zur Hysterie erscheint bemerkenswert, dass dabei die Verfassung nicht mehr viel gilt und im Geruch steht, einen “wirkungsvollen” Anti-Terror-Kampf zu verhindern.
Was in Stanley Kubrick´s Filmklassiker noch böse Satire war, gerinnt in unseren Tagen immer mehr zur erschreckenden Realität. Minister Seltsam halluziniert von der “schmutzigen Bombe”, deren Zündung auf hiesigem Territorium nur noch eine Frage der Zeit sei. Sekundiert wird ihm von seinem Bruder im Geiste, dem derzeitigen Verteidigungsminister, dessen Flugzeugabschussphantasien derzeit den öffentlichen Diskurs der Berliner Republik beherrschen. Dass es einen konkreten Anlass für ihr Kassandra-Geschwätz gäbe, verneinen die beiden Hohepriester der Apokalypse indes. Was also steckt hinter der habituellen Beschwörung eines eingebildeten Notstandes? (mehr…)
Mit den Mitteln der Feindschaft
AUSNAHMEZUSTAND  -  Die Entregelung staatlicher Gewalt in Verbindung mit den immer perfekteren Kontrolltechnologien könnte in einem autoritären Alptraum münden. Eine Warnung
Von Raul Zelik
Als Giorgio Agamben 2003 schrieb, dass sich der Ausnahmezustand mit dem War on Terror in “das herrschende Paradigma des Regierens” verwandele, wurde er von Kritikern belächelt. Von einer “Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Absolutismus”, wie sie der italienische Philosoph auszumachen glaubte, sei die westliche Gesellschaft noch Lichtjahre entfernt.
Mittlerweile lässt sich kaum noch leugnen, dass die staatliche Gewalt in den vergangenen Jahren systematisch enthegt worden ist. Die US-Regierung hat in Guantánamo und an anderen, geheimen Orten Räume des Ausnahmezustands errichtet, in denen - zumindest bislang - weder nationales Recht noch internationale Kriegskonventionen gelten. Folter ist von führenden Repräsentanten der USA als “robuste Verhörmethode” verharmlost und damit legitimiert worden. Ein Tabubruch, der vom “Folterverbot”, den das Weiße Haus vor wenigen Wochen verkündete, nicht rückgängig gemacht wird. Gleichzeitig wird die Kriegführung immer stärker an so genannte “Private Militärdienstleister” (PMC´s) outgesourcet und damit der öffentlichen Kritik systematisch entzogen. Im Irak stellen die PMC´s mit mehreren zehntausend Mann mittlerweile das zweitgrößte Besatzungskontingent nach der US-Armee. (mehr…)
Wer ist al-Kaida?
Fälschungen vermeintlicher al-Kaida-Videos nachgewiesen
Zeit-Fragen.ch
km. Berichte über einen Vortrag des amerikanischen Computerexperten Neal Krawetz auf der «BlackHat-Konferenz» für Computersicherheit in Las Vegas am 3. August (pdf) machen derzeit in ein paar wenigen Printmedien und vor allem auf internationalen Webseiten die Runde. Krawetz hat Beweise dafür vorgelegt, dass sogenannte al-Kaida-Videos in der Regel digital manipuliert wurden. Die al-Kaida-Videos wurden vor ihrer Veröffentlichung von der US-Firma IntelCenter bearbeitet. Krawetz demonstrierte an einem Beispiel, wie das vermeintliche Logo des al-Kaida-Senders «As Sahab» genauso wie das Logo des IntelCenter dem Video im nachhinein technisch gleichartig beigefügt wurden. (mehr…)
Deutschlands Bürger und die Machtpolitik
Zivilgesellschaftliches Engagement kann ein Gegengewicht und Quelle direkter Demokratie sein
Hatte sich schon der schuldig gemacht, der vor dem 30. Januar 1933 nicht alles daran gesetzt hatte, eine Machtübernahme der Nationalsozialisten zu verhindern? Hatte sich der schuldig gemacht, der in Deutschland blieb und keinen aktiven Widerstand leistete? Oder war nur der schuld, der sich aktiv an den Verbrechen des Regimes beteiligt hatte? Und wie steht es mit den Kräften, die sich zwar selbst die Hände nicht schmutzig machten, aber ein grosses Interesse daran hatten und auch einiges dafür getan haben, dass die Nationalsozialisten die Macht erringen und ihr Programm der Zerstörung umsetzen konnten?
Oder ist es sinnvoller, nicht die Schuldfrage ins Zentrum zu rücken, sondern die Suche nach den mitmenschlichen Kräften im Menschen, auch wenn sie sich schuldig gemacht haben? Der deutsche Schriftsteller Carl Zuckmayer hat das getan. Seine Berichte über die Deutschen und Deutschland, die er im Auftrag der US-Regierung während und nach dem Krieg anfertigen musste und die erst vor ein paar Jahren einer grösseren Öffentlichkeit zugänglich wurden (Geheimreport, 2002, ISBN 3-89244-599-0; Deutschlandbericht, 2004, ISBN 3-89244-771-3), lagen quer zur nach dem Krieg verbreiteten Sicht.
Aber man muss auch bedenken: Welche Gefahren bestehen, wenn man sich auf das «Gute im Menschen» konzentriert und Teile der Wirklichkeit ausblendet? Vor allem dann, wenn die «Schuldigen» ihre Schuld nicht sehen oder nicht sehen wollen. (mehr…)
Mohammed und die Brandstifter
Sehenden Auges: Die amerikanischen Rüstungspläne für den Nahen und Mittleren Osten sind so rational wie irrsinnig
Die US-Regierung tritt im Irak auf der Stelle, und die Zahl der Amerikaner, die der Irak-Politik ihres Präsidenten eine Absage erteilen, wächst von Tag zu Tag. Da überrascht das Weiße Haus mit der Schreckensnachricht, Saudi-Arabien, die Golfstaaten und Ägypten - allesamt sunnitisch-arabische Länder - mit Waffen im Wert von 34 Milliarden Dollar ausstatten zu wollen. Kein Waffenexporteur, sondern die Bush-Regierung höchstselbst verkündet ungeniert den neuen Aufrüstungsplan, als würde es sich bei den Abnehmern um eigene Bundesstaaten handeln. Damit Bedenken gegen die Aufrüstung seiner Widersacher gar nicht erst aufkommen, soll Israel in etwa gleichem Umfang Rüstungsgüter erhalten.
Die politische Rechtfertigung für dieses Geschäft liegt auf der Hand. Es geht um Iran, richtiger: das Feindbild Islamische Republik als dem Kernstaat des schiitischen Islam, das die CIA-PR-Agenturen in den vergangenen Jahren so erfolgreich aufgebaut und kolportiert haben. Es wird immer offensichtlicher: Der militärindustrielle Komplex der USA hat einen in sich konsistenten Langzeitplan für den Mittleren und Nahen Osten - Wettrüsten, Wettrüsten und noch einmal Wettrüsten. (mehr…)
Privatisierung des Wohlfahrtsstaates gefährdet Demokratie
Der Neoliberalismus will alles privatisieren, egal ob Bildungsinstitutionen, Stadtwerke oder Gefängnisse. Ein Gespräch dazu mit dem Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge
Von Michael Klarmann
Der Neoliberalismus gefährdet die Demokratie und das Gemeinwesen, sagt Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Köln. Der 56-Jährige ist Mitautor des Mitte August erscheinenden Buches “Kritik des Neoliberalismus”, in dem Butterwegge zusammen mit einer Sozialwissenschaftlerin und einem Ökonomen Grundlagen, Theorien und geschichtliche Hintergründe des “Marktradikalismus” analysiert. Dabei werden auch unterschiedliche Denkschulen und die Widersprüche einer Wirtschaftsform der “Umverteilung von unten nach oben” dargestellt. (mehr…)
Angriff aufs Grundgesetz
Der für Donnerstag geplante Streikauftakt bei der Bahn findet vorerst nicht statt. Das Nürnberger Arbeitsgericht verbot der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) am Mittwoch per einstweiliger Verfügung, zu Arbeitsniederlegungen im Fern- und Güterverkehr aufzurufen. Vor allem die Begründung des Urteils, in der u.a. auf drohende volkswirtschaftliche Schäden durch den Streik verwiesen wird, sorgt bei Juristen und Gewerkschaftern für Empörung. Die Fahrpersonalgewerkschaft, die sofort Widerspruch gegen das Verbot einlegte, will sich an die Entscheidung halten, solange diese Bestand hat. Zugleich kündigte GDL-Chef Manfred Schell am Mittwoch in Frankfurt am Main an, bei Arbeitskampfmaßnahmen im Personenverkehr künftig keine Vorwarnungen mehr zu geben.
Bis zum 30. September sind Arbeitsniederlegungen der Gerichtsentscheidung zufolge bundesweit verboten. Mit dem Widerspruch der GDL wollen sich die Nürnberger Richter erst am Freitag befassen. Sollte dieser und die dann folgende Berufung beim Landesarbeitsgericht ohne Erfolg bleiben, will die GDL vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. (mehr…)